Tobias Graf, Christiane Meyer-Habighorst, Xavier Balaguer Rasillo
Mit Fragen wie Wie verstehen wir Care Arbeit? oder Welche Auswirkungen haben diese Verständnisse auf die Alltags- und Arbeitsrealitäten von Menschen, die bezahlter Care-Arbeit nachgehen oder auch im Privaten viel unbezahlte Care-Arbeit übernehmen? haben sich im Frühlingssemester 2024 die Studierenden des Seminares “Care Work: (Unter/Un)bezahlte Arbeit in der Pflege und Betreuung” (GEO362 Wirtschaftsgeographie)am Geographischen Institut der Universität Zürich intensiv auseinandergesetzt. In diesem forschungsorientierten Modul entwickelten die Studierenden ihre eigenen Forschungsprojekte und lieferten äussert spannende empirische Beiträge mit Blick auf Care-Arbeit in der Schweiz. Die Ergebnisse zeigen auf eindrückliche Weise, dass die Bachelor-Studierende in der Lage sind, sich auf eine kritische und reflektierte Art und Weise mit gesellschaftlich relevanten und brisanten Themen auseinanderzusetzen. Darüber hinaus zeugen die Arbeiten ebenfalls von einer fundierten Umsetzung qualitativer Forschungsmethoden. Geleitet wurde der Kurs von Dr. Xavier Balaguer Rasillo und Christiane Meyer-Habighorst, mit Unterstützung von Semesterassistent Tobias Graf.
Inhaltliche und konzeptionelle Grundlage des Seminars: Care-Arbeit
Zentraler Forschungsgegenstand des Seminares war bezahlte Care-Arbeit. Gleichwohl unter dem Begriff Care (dt. Sorge/ Sorgedienstleistungen) sehr viel verstanden werden kann, hat sich dieses Seminar an der folgenden Definition von Gabriele Winker (2015: 23) orientiert: “So werden unter Care-Arbeit sowohl die Gesamtheit der familialen Sorgearbeit als auch Erziehungs- und Betreuungstätigkeiten in Institutionen wie Kindergärten, Schulen und Altersheimen verstanden.”
Die theoretisch-konzeptionelle Grundlage des Seminares bildeten die wissenschaftlichen Debatten rund um Care-Arbeit im Kontext von Pflege- und Betreuungsarbeit. Diese wurden im ersten Teil des Kurses mittels Leseaufträge erarbeitet. Emma Dowlings (2021) Einführung in ihr Buch The Care Crisis. What Caused it and How Can We End It? sowie Nancy Frasers (2016) Gespräch mit Sarah Leonhard in Capitalism’s Crisis of Care boten zentrale Einblicke in kritisch-feministische Perspektiven auf Care-Arbeit. Mit dem Begriff Crisis of Care benennen sowohl Dowling als auch Fraser die aktuelle Situation, dass einerseits immer mehr Menschen nicht die Pflege und Betreuung erhalten, die sie benötigen. Andererseits haben immer mehr Arbeitende Schwierigkeiten Zeit für Care-Arbeit zu finden bzw. die Pflege- und Betreuungsarbeit unter menschenwürdigen Bedingungen zu verrichten. Ausserdem wurde in beiden Texten klar, dass die neoliberale und globale Organisation von Pflege und Betreuung ungleich verteilt ist. Dies bedeutet, dass ein Grossteil der Arbeit meistens von Frauen, häufig Migrantinnen, übernommen wird. Darüber hinaus lernten die Studierenden sowohl mittels Literaturarbeit als auch eines Gastvortrages, dass die bezahlte Pflege- und Betreuungsarbeit von Menschen häufig unter sehr prekären Bedingungen stattfindet. Dies bedeutet beispielsweise, dass die Arbeitslast sehr hoch ist, unfreiwillig Teilzeitarbeit eingegangen werden muss oder die Bezahlung, insbesondere in einer der teuersten Städte in Europa, unzureichend ist.
Methodische Grundlage des Seminars: Qualitative Methoden der Humangeographie
Aufbauend auf den theoretischen und wissenschaftlichen Debatten rund um Care-Arbeit und die Care-Krise hatten die Studierenden die Möglichkeit, sich im Rahmen von eigenen Forschungsprojekten mit den besprochenen Themen empirisch auseinanderzusetzen. Um das selbstständige Gestalten und Durchführen von fundierten Forschungsprojekten zu lernen, gaben unter anderem die Gastbeiträge von Doktorandin Khaoula Ettarfi und Masterstudent Tobias Graf genauere Einblicke in die Konzeptionalisierung von Forschungsfragen sowie die Ergebung und Analyse von Daten. Ausserdem wurden als Instrumente für die Generierung empirischen Materials verschiedene qualitative Methoden der Sozialforschung, mit einem Fokus auf Interviews, genauer vorgestellt.
Für die Durchführung eigener Forschungsprojekte haben sich die Studierenden selbstständig anhand ihrer individuellen Interessen in Gruppen von vier bis sechs Personen aufgeteilt. Als erster Schritt der eigenen Forschung wurden Forschungskonzepte erstellt. Diese gaben den Gruppen die Möglichkeit, die Forschungsfrage und geplanten Methoden dem Kurs und den Dozierenden vorzustellen und mit anschliessendem Feedback anzupassen. Daran anschliessend arbeiteten die Gruppen selbstständig an allen Aspekten der Datenerhebung und -analyse: Erstellung von Interviewleitfäden, Suche nach Interviewpartner*innen, Durchführung von Interviews, Transkription, Kategorienbildung, Kodierung und anschliessende Analyse des Datenmaterials.
Die Ergebnisse der Forschungsarbeiten
Was waren nun die Themen der verschiedenen Gruppen, und welche Aspekte der Care Krise konnten sie beleuchten?
Eine Gruppe befasste sich mit der Wertschätzung von bezahlter und unbezahlter Care-Arbeit. Dafür interviewten sie Personen, welche bezahlte Care-Arbeit im Altersheim sowie auch unbezahlte Care-Arbeit im privaten Umfeld leisten. Sie befragten die Interviewpartner*innen nach ihrer erlebten Wertschätzung sowohl ihrer bezahlten (Lohnarbeit) als auch unbezahlten (privat) Care-Arbeit. Die Gruppe konnte aufzeigen, dass die interviewten Personen in beiden Bereichen am häufigsten Worte der Bestätigung und Dankbarkeit als Form von Wertschätzung erfahren. Mit Blick auf die Lohnarbeit wurde sehr prominent angeführt, dass der geringe Lohn als eine Form der fehlenden Wertschätzung wahrgenommen wird.
Das Forschungsprojekt einer anderen Gruppe handelte von der politischen Repräsentation von Care-Arbeitenden im Gesundheitswesen. Dabei haben sich die Studierenden mit der Frage beschäftigt, inwiefern die Anliegen von Care-Arbeitenden im Schweizer Gesundheitswesen auf politischer Ebene (re)präsentiert werden. Für dieses Projekt wurden Arbeitenden befragt, die in der institutionalisierten Politik aktiv sind. Aus den Interviews stellte sich heraus, dass einheitliche Forderungen zu besseren Arbeitsbedingungen und einem höheren Lohn bestehen.
Eine weitere Gruppe beschäftigte sich mit Geschlechterstereotypen und -verteilung in der Pflege. Besonders interessiert waren die Studierenden dabei daran, wie sich diese auf die wahrgenommenen Aufstiegschancen von Auszubildenden auswirken. Die Forschung zeigt, dass Männer wie auch Frauen durch Stereotype und Barrieren im Pflegeberuf in bestimmte Richtungen gelenkt werden.
Das Forschungsprojekt der vierten Gruppe thematisierte die Prekarisierung der Arbeit in der schulergänzenden Kinderbetreuung und die Wahrnehmung des Betreuungspersonals. Wie in anderen Projekten, stellte die Wertschätzung einen wichtigen Aspekt der Erfahrungen der Arbeitenden dar: Die interviewten Personen führten an, dass es ihnen an ausreichender finanzieller Entlohnung und Anerkennung fehle. Durch die Nennung von Problemen in Bezug auf Arbeitszeiten und mangelndes Personal, hat die Gruppe aufzeigen können, dass die Arbeit der interviewten Personen prekär ist.
Die letzte Gruppe interessierte sich für die Selbstorganisierung von Care-Arbeitenden in der bezahlten Care-Arbeit in der Schweiz im Fokus. Dafür wurden Interviews mit organisierten Arbeitenden in der Pflege sowie einer Juristin durchgeführt. Auch hier wurde die Prekarisierung der Arbeit thematisiert, welche zur Organisierung motivierten. Als zentrale Hürden bei der Selbstorganisierung wurden beispielsweise Zeit- und Ressourcenmangel genannt sowie die ambivalente Beziehung zu traditionellen Gewerkschaften.
Abschliessende Worte
Gleichwohl das Seminar und die Forschungsberichte der Gruppen abgeschlossen sind, zeigen die Ergebnisse sehr eindrücklich, dass sowohl in Forschung als auch Praxis ein grosser Handlungsbedarf zur Stärkung von Arbeitenden im Bereich der Pflege und Betreuung in der Schweiz besteht. Die Arbeiten der Studierenden weisen dabei insbesondere auf die Bandbreite der bestehenden Herausforderungen und Schwierigkeiten sowie brisante Fragestellungen im Pflege- und Betreuungssektor hin.
Darüber hinaus wurde im Rahmen des Seminars sehr deutlich, wie spannend es sein kann in der Lehre aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen, theoretische Konzepte und methodische Grundlagen aktiv zu vereinen. Wir freuen uns daher bereits sehr auf die nächste Durchführung des Kurses im Frühlingsemester 2025, in dem vielleicht Ihr euch empirisch mit Fragen rund um Care-Arbeiten beschäftigen werdet!
Quellen
Dowling, Emma (2021). The Care Crisis: What caused it and how can we end it? London: Verso
Fraser, Nancy (2016). Contradictions of Capital and Care. New Left Review 100, 99-117.
Winker, Gabriele (2016). Care Revolution. Schritte in eine Solidarische Gesellschaft. Bielefeld: Transcript Verlag.